mittellateinische Literatur

mittellateinische Literatur
mittel|lateinische Literatur,
 
die lateinische Literatur des europäischen Mittelalters Sie lässt sich wegen der fließenden Übergänge zur vorausgehenden lateinischen Literatur der Spätantike und zur nachfolgenden des Humanismus zeitlich nur ungefähr auf 500- 1500 eingrenzen und brachte infolge der im gesamten christlichen Abendland benutzten lateinischen Buchsprache (mittellateinische Sprache) weit mehr Werke und Formen hervor als die römische Antike.
 
 Grundlagen
 
Die christlich geprägte Gesellschaft des Mittelalters erhielt sowohl in den einst von den Römern beeinflussten Ländern der Romania als auch in den nach und nach von der Mission erfassten Gebieten der Germanen und Westslawen ihre geistige Formung durch die lateinische Kirche. Diese vermittelte in den Kloster-, Dom- und Ordensschulen, dann auch an den Universitäten tradiertes antikes und frühchristliches, durch Übersetzung erlangtes orientalisch-arabisches und zeitgenössisches Wissensgut; sie ließ die Texte abschreiben, förderte das Entstehen von Bibliotheken und besaß das Bildungsmonopol.
 
Zwar konnte sich das spätantike Latein in den Ländern der Romania bis ins Frühmittelalter halten, besonders in Kulturzentren, die die Wirren der Völkerwanderungszeit überstanden hatten, doch wurde es spätestens um 800 mit dem Selbstständigwerden der romanischen Volkssprachen auch hier zur Fremd- und Literatursprache. Die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, die Fähigkeit zum Verfassen von Schriften sowie die gesamte höhere Bildung wurden durch das Studium lateinischer Texte vermittelt. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich die mittellateinische Literatur als erste und das Mittelalter beherrschende Buchliteratur Europas. Die lateinische Literatur der Antike wurde in den Schulen gelehrt, die pagane Literatur und der Psalter zum Erlernen von Sprache und literarischen Formen, die Schriften der Kirchenväter zur Exegese der christlichen Lehre. Dieser traditionelle Bildungshorizont blieb im Mittelalter durchgehend spürbar, ohne dass solche Anlehnung einengend wirkte.
 
Neben den quantitierenden Vers der Antike trat der akzentuierende Vers (Metrik). Beide Versformen stattete man oft mit Reimen aus, und auch die Prosa wurde (in den Satzschlüssen) gereimt oder rhythmisiert. Die traditionellen Gattungen antiker Poesie und Prosa wurden weiter gepflegt, jedoch in Form und Inhalt variiert (Vagantenlyrik, Tierepos, elegische Komödie). Neue Gattungen kamen hinzu: z. B. in der Geschichtsschreibung Gesta, Weltchronik, Streitschrift, in der Hagiographie Legende, Mirakel, Vision, in der Erzählliteratur Exempel und Fazetie; in der wissenschaftlichen Literatur Quaestio und Quodlibet; in der religiösen Poesie Hymnus, Sequenz, Tropus, Reimgebet, schließlich das geistliche Spiel (Ludus), das sich unbeeinflusst von der Antike aus der Liturgie des Osterfestes entwickelte. In solchen Neuerungen sowie in der Aufgeschlossenheit, fremdes Kulturgut zu rezipieren und zeitgenössische Fragen zu thematisieren, zeigen sich Kreativität und Originalität der mittellateinischen Literatur, die dadurch vorbildhaft auf die volkssprachlichen Literaturen wirkte.
 
 Von den Anfängen bis zum Ende des 9. Jahrhunderts
 
Am Beginn der mittellateinischen Literatur standen Gelehrte, die noch ganz in der antiken Bildung wurzelten, wie sie besonders in Italien fortlebte. Cassiodor trug entscheidend zur Bewahrung der überlieferten Kultur bei, indem er antike Werke abschreiben und übersetzen ließ und die weltlichen Studien in sein Bildungsideal einbezog. Das Hauptwerk des als »letzter Römer« bezeichneten Boethius, »De consolatione philosophiae«, atmet noch ganz den Geist antiker Philosophie. Obwohl spezifisch christliches Gedankengut darin fehlt, hatte die Schrift eine außerordentliche Wirkung. Gleiches gilt von der Ordensregel des Benedikt von Nursia; der von ihm begründete Benediktinerorden war jahrhundertelang der bedeutendste Träger der Bildung im Abendland. Begebenheiten aus Benedikts Leben erzählen die »Dialogi« Papst Gregors I., des Großen, die wie seine exegetische »Moralia in Iob« zu den verbreitetsten Werken des Mittelalters gehörten. Künder einer neuen Zeit war Gregor insofern, als er die überkommenen antiken Bildungsinhalte ablehnte. Gesammelt ist das tradierte Bildungsgut noch einmal in den »Etymologiae« Isidors von Sevilla, aus dieser Universalenzyklopädie schöpfte das gesamte Mittelalter sein weltliches und geistliches Wissen.
 
In Irland hatte mit der Christianisierung im 5. Jahrhundert die lateinische Sprache erstmals in einem nicht von Rom beherrschten Land festen Fuß gefasst. Dort entstanden, vielfach in bizarrem Latein, Hymnen, hagiographische und grammatische Werke. Seit dem 6. Jahrhundert trugen die Iren ihre Bildungstradition auch auf den Kontinent. Noch in karolingischer Zeit ragten der Dichter Sedulius Scottus und der philosophisch gebildete Johannes Scotus Eriugena heraus.
 
Im 7. Jahrhundert ging die kulturelle Führung auf die Angelsachsen über. Die erste bedeutende Gestalt war Aldhelm (von Malmesbury); ihn überragte Beda Venerabilis, der erste Universalgelehrte des Mittelalters, der mit der »Historia ecclesiastica gentis Anglorum« ein einzigartiges Geschichtswerk über die Frühzeit Englands schuf. Auf dem Kontinent erreichte die merowingische Kultur schon vor 600 in den Dichtungen von Venantius Fortunatus einen Höhepunkt; die kulturgeschichtlich wichtigste Chronik des Merowingerreiches, die »Historia Francorum«, schuf Gregor von Tours.
 
In der Folgezeit vollzog sich erst unter Karl dem Großen ein neuer Aufschwung. Zur Unterstützung seiner tief greifenden Bildungsreform berief er den Angelsachsen Alkuin 781 zum Leiter seiner Hofschule, dieser beeinflusste entscheidend das geistige Leben der karolingischen Epoche und damit die einheitliche kulturelle Entwicklung im Frankenreich. Ihm zur Seite standen u. a. der Geschichtsschreiber Paulus Diaconus und Theodulf von Orléans, dessen formgewandte Gedichte ein lebendiges Bild vom Leben am kaiserlichen Hof entwerfen. Einhard, der bedeutendste fränkische Gelehrte am Hof, schrieb seine »Vita Karoli Magni« in enger Anlehnung an die Kaiserbiographien Suetons, aber mit mittelalterlichem Kolorit.
 
Karls Reform wirkte über seinen Tod (814) hinaus weiter und brachte große gelehrte und poetische Literatur hervor. Als universaler Vermittler der kulturellen Traditionen ragte Hrabanus Maurus heraus. Das weltliche Epos lebte u. a. in den panegyrischen Dichtungen des Ermoldus Nigellus auf Ludwig den Frommen fort. Von besonderem Rang ist das »Waltharius-Epos«, das eine Heldensage der Völkerwanderungszeit poetisch gestaltet und vielleicht in Sankt Gallen entstand (Ekkehart I.?). Der durch eine poetische Jenseitsvision und ein Lehrgedicht über die Heilpflanzen im Reichenauer Klostergarten bekannte Mönch Walahfrid Strabo beherrschte alle Gattungen und Versformen. Als Lyriker ist ihm im 9. Jahrhundert nur Gottschalk der Sachse ebenbürtig. Eine dichterische Neuerung der Zeit war die Sequenz, mit deren vollendeter Ausführung Notker Balbulus nachhaltigen Einfluss ausübte, ähnlich Tutilo durch den Tropus.
 
 10. und 11. Jahrhundert
 
Der politische Zerfall des karolingischen Reiches spiegelte sich in einer Regionalisierung des literarischen Schaffens, auch in der Beschränkung auf lokale Themen (Heiligenviten, Klosterannalen). Später Vertreter der spätkarolingischen Bildungstradition war im 10. Jahrhundert Regino von Prüm, der als Kanonist, Musiktheoretiker und Geschichtsschreiber hervortrat. Heilsgeschichtliche Epen in der Nachfolge spätantiker Bibeldichtung verfassten in Westfranken Odo von Cluny und Flodoard von Reims. Den Bogen vom karolingischen Erbe zur Neubelebung des literarischen Schaffens unter Otto I. schlug Rather von Verona. Das Geschichtswerk Widukinds von Corvey (* um 925, ✝ nach 973) spiegelt den Stolz auf die Leistungen des Stammes der Sachsen. Hrotsvith von Gandersheim, ebenfalls Panegyrikerin ihres Herrscherhauses, ragt wegen der im Mittelalter einzigartigen Legenden in dramatischer Form heraus. In enger Verbindung mit dem Hof Ottos I. stand Liudprand von Cremona mit seinem memoirenhaften Werk.
 
Anders als in Deutschland, wo mit dem Tod Ottos I. eine kurze literarische Blüte endete, begann zu dieser Zeit in Frankreich eine fruchtbare Epoche, deren geistiges Leben von den aufblühenden Kathedralschulen bestimmt wurde. In Reims lehrte der wissenschaftlich vielseitige Gerbert von Aurillac, sein Schüler Fulbert begründete die Schule von Chartres. Eine ausführliche Geschichte der Franken stellte der Mönch Aimoin von Fleury zusammen. Im Norden Frankreichs beschrieb Dudo von Saint-Quentin die Taten der normannischen Herzöge, im Süden wurde das damals bekannte Hymnengut in Moissac und Limoges erstmals gesammelt.
 
Unter Heinrich II. erneuerte sich das literarische Leben auch in Deutschland. Bedeutende Zeugnisse der sächsischen Tradition sind die Chronik Thietmars von Merseburg und Thangmars Vita des Hildesheimer Bischofs Bernward, doch verlagerten sich unter Heinrichs salischen Nachfolgern die kulturellen Zentren in das Gebiet am Oberrhein und um den Bodensee. Wipo, Lehrer und Hofkaplan Heinrichs III., schrieb eine Darstellung der Regierungszeit Konrads II. und die in der Liturgie noch lebendige Ostersequenz »Victimae paschali laudes«. Bischof Burchard von Worms (✝ 1025) legte die erste bedeutende Sammlung des Kirchenrechts an, der Chronist und Wissenschaftler Hermann von Reichenau verfasste auch Sequenzen und Lehrgedichte, Ekkehart IV. entwarf ein buntes Bild vom Leben des Klosters Sankt Gallen. Von besonderer Bedeutung ist die von Heinrich III. angeregte, 50 Gedichte umfassende Cambridger Liedersammlung (Carmina Cantabrigiensia). In der anonymen satirischen »Ecbasis cuiusdam captivi per tropologiam« (um 1045) liegt das erste Tierepos des Mittelalters vor. Das Epos »Ruodlieb« (um 1050) weist auf die volkssprachlichen Ritterromane des 12. Jahrhunderts voraus.
 
Während der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts vollzog sich ein merklicher politischer und kultureller Wandel, geistig vorbereitet durch die Reformen des Mönchtums (Gorze, Cluny) und geprägt vom Investiturstreit, von der Kirchenreform und vom Aufblühen der Scholastik. Ihr Begründer war Anselm von Canterbury, der in seinem Werk die Dialektik in die Glaubenslehre einbezog. Als Kirchenreformer ragt Petrus Damiani heraus. In einem besonders wertvollen Geschichtswerk umriss Adam von Bremen die Geschichte der nordischen Mission und vermittelte seinen Zeitgenossen eine detaillierte Länderkunde Skandinaviens. Der Kampf zwischen Königtum und Papsttum (Heinrich IV., Gregor VII.) löste eine Fülle von Streitschriften bis weit ins 12. Jahrhundert aus: herausragend die einseitig päpstliche Manegolds von Lautenbach (um 1085) und die königstreue eines Hersfelder Mönchs (um 1090).
 
 12. und 13. Jahrhundert
 
Im Hochmittelalter wurde Frankreich zum Zentrum der Gelehrsamkeit. An den französischen Kathedralschulen und Universitäten wirkten zahlreiche Gelehrte unterschiedlicher Nationalität, die das Denken der Zeit richtungweisend veränderten. Seit dem 11. Jahrhundert wurde das Studium der Artes liberales in Reims und besonders in Chartres gepflegt, wo Bernhard und Thierry sowie Wilhelm von Conches ihre platonisch fundierte Naturphilosophie über die Schöpfung von Kosmos und Mensch entwickelten und damit die Dichter Bernardus Silvestris von Tours (»De mundi universitate«, um 1150), Alanus ab Insulis und Johannes von Hauvilla (* um 1150, ✝ vor 1216) zur allegorischen Deutung der »Mutter Natur« in epischer Form inspirierten.
 
Das Studium römischer Autoren führte in den Schulen an der Loire, z. B. Angers, Orléans und Tours, zur Wiederentdeckung Ovids, der den Autoren weltlicher Poesie geistiges und formales Vorbild wurde. Marbod von Rennes, Balderich von Bourgueil und Hildebert von Lavardin vereinten christlichen Gesinnung und antikes Lebensgefühl und schlugen mit Huldigungen an adelige Damen und Versbriefen an gebildete Nonnen neue Töne an, die Hilarius von Orléans (* etwa 1075, ✝ 1145) in rhythmisch gereimten Liebesliedern noch freier nuancierte. Vollends herrschen Diesseitsstimmung und Lebensfreude in der Vagantendichtung vor. Aus dem meist anonym in späteren Sammlungen (z. B. Carmina Burana) Überlieferten ragen Hugo von Orléans, der Archipoeta und Walther von Châtillon (✝ um 1200) heraus. Besonders in Orléans wurde der Einfluss Ovids deutlich, zeigte sich in der handfesten Erotik der populären elegischen (Lese-)Komödien (»Pamphilus de amore«, um 1150), in der Poetik des Mattheus von Vendôme (1175), in der Liebeslehre des Andreas Capellanus (um 1186) und ließ noch im 13. Jahrhundert Epen wie die angebliche Lebensbeichte Ovids »De vetula« entstehen.
 
Auf solche Weltlichkeit reagierten besonders die Mönchsorden mit frauenfeindlichem und weltverachtendem Schrifttum, z. B. Bernhard von Cluny um 1150 mit der Verssatire »De contemptu mundi«. Abaelardus, dessen Liebesverhältnis zu Héloise in der autobiographischen »Historia calamitatum mearum« literarisch gestaltet ist, wurde aufgrund seiner dialektischen Glaubenslehre (»Sic et non«) und seiner Gesinnungsethik kirchlich verurteilt. Dahinter stand als geistiger Gegner Bernhard von Clairvaux, der in seinen stilistisch gefeilten Schriften und mitreißenden Predigten die Christusmystik und Marienverehrung des Mittelalters begründete, womit er eine reiche Literatur von Mirakeln und Visionen auslöste. Poetische Höhepunkte sind die geistlichen Lieder Hildegards von Bingen, rhythmische Dichtungen wie das anonyme Marienleben »Vita beate virginis Marie et Salvatoris« (Süddeutschland, nach 1200) und das Nachtigallenlied des Johannes von Hoveden. Während Visionen fast nur von Frauen verfasst wurden - so von Hildegard von Bingen und Gertrud von Helfta -, vereinte Caesarius von Heisterbach Visions- und Wundergeschichten im »Dialogus miraculorum« zur religiös-moralischen Unterweisung. Jakob von Vitry und Odo von Cheriton erschlossen für die mittellateinische Literatur die Erzählform des Exempels.
 
Noch im 12. Jahrhundert entwickelte sich Paris u. a. durch Abaelardus und die Stiftsschule von Sankt Viktor zum Mittelpunkt der grammatischen, philosophischen und theologischen Studien. Hugo von Sankt Viktor bereitete hier Grundlagenwissen in seinem Handbuch »Didascalicon« auf und verkündete mit dem Schotten Richard eine augustinisch-mystische Glaubenslehre; Adam dichtete neuartige Sequenzen. An der Schule von Notre-Dame lehrte u. a. Petrus Lombardus, der durch seine theologische Dogmatik »Sententiae« berühmt wurde. Schulbildend wirkten auch Gilbert de la Porrée mit seiner streng rational begründeten Theologie und Petrus Helie (✝ nach 1166) mit der Einführung der Sprachlogik in die Grammatik. In dieser Zeit wurde Bologna zum Zentrum der Studien des römischen und kirchlichen Rechts, nachdem hier um 1140 Irnerius mit Glossen zum Corpus Iuris und Gratian mit dem »Decretum Gratiani« die Legistik (Wissenschaft vom Privatrecht) beziehungsweise die Kanonistik begründet hatten. Mittelpunkt der medizinischen Studien war v. a. Salerno, dessen Bedeutung die populären diätetischen Versregeln des »Regimen sanitatis Salernitanum« verkündeten. Zu den Universitäten, die sich um 1200 in Bologna und Paris aus den Schulen formiert hatten, trat im 13. Jahrhundert Oxford, bedeutend durch den ersten Kanzler Robert Grosseteste und Roger Bacon, die erstmals Naturbeobachtung und Experiment zur Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis machten. Sie gehörten dem neuen Orden der Franziskaner an, deren literarisches Schaffen ebenso wie das der Dominikaner sowohl wissenschaftlich als auch seelsorgerisch orientiert war und Denken und Schrifttum des 13. Jahrhunderts prägte. So zielten die religiöse Lyrik, z. B. die Fronleichnamslieder von Thomas von Aquino oder die Sequenz »Dies irae, dies illa«, die Franziskus-Viten des Thomas von Celano und die Legendensammlung des Jacobus de Voragine (als »Legenda aurea« Volksbuch des Spätmittelalters) v. a. auf Verinnerlichung. In der gelehrten Literatur setzte sich der Zug zur Verwissenschaftlichung fort; das zeigt sich z. B. in den systematischen theologischen Summen Alexanders von Hales, des Thomas von Aquino und, mit Betonung der mystischen Gottesschau, Bonaventuras sowie in der umfangreichsten mittelalterlichen Enzyklopädie »Speculum maius« des Vinzenz von Beauvais. Deutlich wuchs das Interesse an der Naturwissenschaft. So verfasste Bartholomaeus Anglicus eine naturkundliche Enzyklopädie, Albertus Magnus Werke über Botanik und Zoologie.
 
Daneben entstand eine vielfältige didaktische Literatur, in der unterschiedliche Lehrstoffe versifiziert wurden: so Grammatiken von Alexander de Villa Dei und Johannes de Garlandia; Galfred von Vinsauf schrieb ein Lehrbuch der Dichtkunst, Aegidius von Corbeil (✝ um 1224) über medizinische Lehrinhalte, von Konrad von Mure stammt eine Tierkunde und von Hugo von Trimberg mit dem »Registrum multorum auctorum« eine Literaturgeschichte. Künstlerisch anspruchsvoller sind moralische Dichtungen wie die Fortuna-Elegie (um 1193) Heinrichs von Settimello oder der »Palpanista« (»Schmeichler«, um 1246) Bernhards von der Geist; besonders wertvoll die satirischen Epen des Nivardus (»Ysengrimus«, um 1150) über die Geschichte von Fuchs und Wolf, des Nigellus von Longchamps (»Speculum stultorum«, vor 1180) über das Studium eines Esels, Heinrichs von Würzburg Satire über die Missstände in der päpstlichen Kurie und Nikolaus' von Bibra »Carmen satiricum« über den Klerus von Erfurt.
 
Voraussetzung und Grundlage der Blüte der Wissenschaft im 13. Jahrhundert war die Rezeption griechisch-arabischer Philosophie und Naturlehre, besonders des Aristoteles, für dessen Einführung Albertus Magnus am meisten leistete. Das fremde Schrifttum wurde seit Beginn des 12. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt, z. B. von Gerhard von Cremona und Wilhelm von Moerbeke, v. a. dort, wo sich ein interkultureller Austausch vollzog wie in Spanien (Übersetzerschule von Toledo), Süditalien-Sizilien (Schule von Salerno, Normannen- und Stauferhof), Palästina und Byzanz. Auf diesen Wegen gelangte auch orientalisch-arabisches Erzählgut (u. a. »Barlaam und Josaphat«, »Kalila und Dimna«, die Sieben weisen Meister) ins Abendland, vermittelt z. B. in den Novellen des Petrus Alfonsi (nach 1106).
 
Im Hochmittelalter wirkten zahlreiche Kleriker in Verwaltungs- und Erziehungsaufgaben auch an den Herrscherhöfen, die mit ihrem mehr an Information und Unterhaltung als an Gelehrsamkeit interessierten Publikum zum Ausgangspunkt volkssprachlicher Literatur, daneben aber auch zum Ursprung eines bedeutenden Teils der lateinischen historiographischen Prosa- und Versliteratur wurden. Ihre zentralen Themen waren u. a. der Konflikt zwischen Kaiser und Papst, die Machtentfaltung der Normannen in Süditalien, Frankreich und England (hier besonders das Schicksal Thomas Beckets), der Aufstieg des französischen Königtums und die Kreuzzüge.
 
In Deutschland versammelte nach Heinrich IV., dessen Schicksal Erlung von Würzburg literarisch gestaltete, erst wieder Friedrich I. bedeutende Autoren um sich. Ihm widmete Otto von Freising seine Weltchronik; die Politik Friedrichs I. in Italien feierten der Archipoeta im Kaiserhymnus und Gunther von Pairis im Epos »Ligurinus«. Gottfried von Viterbo verfasste für den Thronfolger Heinrich eine Weltgeschichte. Im Umkreis des Hofes entstanden das Tegernseer dramatische Spiel vom deutschen Kaiser und dem Antichrist (Ludus de Antichristo) sowie die Heilsgeschichte »Hortus deliciarum« Herrads von Hohenburg. Petrus von Eboli pries Heinrich VI. als Erben des Normannenreichs im Süden, dessen Gründer Robert Guiscard von Wilhelm von Apulien um 1100 besungen worden war, während Joachim von Fiore in seiner Geschichtstheologie das Ende der Welt ankündigte. Unter Friedrich II., der ein Handbuch für die Falkenjagd schrieb, und seinem Sohn Manfred blühten Wissenschaft und Literatur am Hof in Palermo und in Unteritalien: Dort wirkten der Philosoph Michael Scotus, der Mathematiker L. Fibonacci, der Stilist Petrus de Vinea; hier schufen Thomas von Capua (* vor 1185, ✝ 1239) geistliche Lieder, Quilichinus von Spoleto ein populäres Alexanderepos nach der lateinischen Übersetzung des griechischen Alexanderromans durch Leo Archipresbyter (Neapel um 960) und, unter Karl I. von Anjou, Guido della Colonne (* um 1210, ✝ nach 1287) 1272-87 das (oft übersetzte) Buch über Troja (»Historia destructionis Troie«), erzählt als historischer Roman nach dem für Eleonore von Aquitanien verfassten altfranzösischen Epos des Benoît de Sainte-Maure.
 
Das Ringen der anglonormannischen und französischen Könige des 12. und 13. Jahrhunderts um die Vorherrschaft in Westeuropa zeigte auch kulturelle Auswirkungen. Während in Paris nur Abt Suger von Saint-Denis mit Königsbiographien und einem Bericht über die Weihe der ersten gotischen Kirche hervortrat, bildete sich um Heinrich I. von England und seine Gemahlinnen ein höfischer Kreis, dem u. a. der Dichter Hildebert von Lavardin und altfranzösische Autoren verbunden waren. Die Traditionen angelsächsisch und normannischen Königtums wurden in bedeutenden Geschichtswerken miteinander verflochten, so in Geoffreys of Monmouth »Historia regum Britanniae« (1136), wo das Königtum mit der Sage von König Arthur (Artus) verbunden wurde. Hier liegt der Ursprung der europäischen Artusepik. Unter Heinrich II. und Eleonore von Aquitanien wurde der englische Hof zum Zentrum höfischer Kultur. Mittellatinische Autoren in seinem Umfeld waren z. B. Stephan von Rouen mit dem Epos »Draco Normannicus« und Walter von Châtillon mit der »Alexandreis« (1185), das Hofleben schilderten Petrus von Blois in Briefen, W. Map in unterhaltsamen Hofanekdoten und Gerald von Wales in seiner Autobiographie. Abstand vom Hof hielt Johannes von Salisbury, der für T. Becket im »Policraticus« (1159) die erste Staatslehre des Mittelalters nach ethischen Prinzipien entwarf, im Konflikt mit Heinrich II. Beckets Exil teilte und als Augenzeuge seiner Ermordung eine »Vita« des Märtyrers schrieb. Mit dem Niedergang des englischen Königtums Ende des 12. Jahrhunderts ging der Aufstieg des französischen einher, das seine Tradition von den Franken, besonders von Karl dem Großen, herleitete, dessen Heldentum Pseudo-Turpin nach dem altfranzösischen Rolandslied um 1150 popularisiert hatte. Am Hof Philipps II. Augustus pries Aegidius von Paris den Kaiser im Epos »Carolinus« (1200); Rigord von Saint-Denis (* um 1158, ✝ 1208) und Wilhelm der Bretone feierten Philipp in ihren »Gesta« und im Epos »Philippis« als Begründer der französischen Großmachtstellung im 13. Jahrhundert.
 
Die Kreuzzüge waren seit ihrem Beginn (1096) Thema leidenschaftlicher Predigten, poetischer Kreuzlieder und besonders der Geschichtsschreibung. Die Erfolge des 1. Kreuzzugs spiegelten die »Historia Hierosolymitana« Fulchers von Chartres, die »Gesta Dei per Francos« Guiberts von Nogent, die romanhafte »Historia« (über die Taten Gottfrieds von Bouillon, 12 Bücher, um 1121) von Albert von Aachen sowie die Epen des Gilo von Paris und Metellus von Tegernsee. Das Schicksal der Kreuzfahrerstaaten schilderten Wilhelm von Tyrus und Jakob von Vitry, die Eroberung des christlichen Byzanz (1204) beschrieb Gunther von Pairis mit kritischem Unterton. Durch ihren späteren Misserfolg, der Otto von Freising in seiner Weltchronik (1146/47) zur Vorstellung des nahen Weltendes geführt hatte, verloren die Kreuzzüge allmählich ihren literarischen Stellenwert, wie besonders die Universalchroniken zeigen. Zwar wurden sie von Sigebert von Gembloux, Frutolf von Michelsberg, Ekkehard von Aura, auch von Lambert von Saint-Omer (um 1120 in seiner illustrierten Geschichtsenzyklopädie »Liber floridus«) sowie von Matthäus Parisiensis in den Ablauf der Welt- und Heilsgeschichte integriert, im 13. Jahrhundert dienten die Kreuzzugsgeschichten jedoch v. a. als Quelle für Herrscher- und Papstdaten, z. B. in dem Geschichtskompendium des Martin von Troppau oder für Erzählungen wie in der Chronik des Salimbene da Parma.
 
 14. und 15. Jahrhundert
 
Trotz wachsender Konkurrenz der volkssprachlichen Literaturen Europas - viele Autoren schrieben zweisprachig - behielt die mittellateinische Literatur im Spätmittelalter ihren Vorrang. Schon früher sichtbare literarische Tendenzen traten nun schärfer hervor. Durch die Gründung neuer Universitäten wuchs das gelehrte und didaktische Schrifttum, war aber in der Wirkung mehr und mehr auf den akademischen Raum beschränkt. Die Verwissenschaftlichung führte zu weiteren bedeutenden Fachbüchern wie der »Chirurgia magna« des Guido von Chauliac (✝ 1368), der Gesellschaftslehre »Yconomica« des Konrad von Megenberg und zu Enzyklopädien wie der »Catena aurea« Heinrichs von Herford, verengte sich jedoch in der Spätscholastik zu spitzfindiger Behandlung philosophischer und theologischer Spezialfragen oder zur Kommentierung von Kommentaren. Dagegen wuchs beim gebildeten Publikum das Interesse an praktischen Dingen des Lebens und fernen Ländern, an Unterhaltung und Erbauung; Werke wie das über den Landbau von Petrus de Crescentiis, das allegorische Schachbuch des Jakob von Cessole, die Exempelsammlung »Lumen anime«, die Erzählungen der »Gesta Romanorum«, die »Legenda aurea«, Pilger- und Reiseberichte waren europaweit verbreitet.
 
Ihre Lebenskraft bewies die mittellateinische Literatur v. a. in der Geschichtsschreibung, in der religiösen Poesie und im mystischen Schrifttum. Aus der Fülle der Städte-, Länder- und Weltchroniken hoben sich die den Habsburgern geltenden Werke etwa des Johannes von Viktring (✝ 1345) und des Matthias von Neuenburg heraus, ebenso der autobiographische Rechenschaftsbericht Karls IV. und die Streitschriften über die beste Staatsform, die Ägidius von Rom in der Weltherrschaft des Papstes, Dante in seiner »Monarchia« und der Gelehrtenkreis um Ludwig IV., den Bayern, mit Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham, Lupold von Bebenburg im universalen Kaisertum sahen. In der geistlichen Lyrik entstanden Reimoffizium, Psalterium und Marienlied; diese neue Blüte wurde von Dichtern wie dem Zisterzienser Christan von Lilienfeld (✝ nach 1330), dem Kartäuser Konrad von Haimburg und dem Benediktiner U. Stöckl getragen. Das Streben nach Verinnerlichung ging v. a. von den Werken der großen Mystiker aus (Meister Eckhart, Ludolf von Sachsen, G. Groote, Nikolaus von Kues, Thomas von Kempen).
 
Seit dem 13. Jahrhundert war der Einfluss der Antike in der mittellateinischen Literatur weitgehend verschwunden. Nach 1300 setzte in Italien die geistige Gegenbewegung ein, der Humanismus: Man nahm sich die römische Literatur wieder bewusst zum Vorbild (Petrarca) und übersetzte (schulbildend M. Chrysoloras) neu entdeckte griechische Texte. Die humanistische Literatur blieb zunächst eine Richtung innerhalb der mittellateinischen Literatur; erst durch das Eindringen des Humanismus in andere Länder Europas und v. a. durch dessen bewusste Distanzierung von Geist und Sprache der Spätscholastik entwickelte sich Ende des 15. Jahrhunderts die neulateinische Literatur.
 
 
 
G. Gröber: Übersicht über die lat. Lit. von der Mitte des 6. Jh. bis zur Mitte des 14. Jh. (Straßburg 1902, Nachdr. 1974);
 M. Manitius: Gesch. der lat. Lit. des MA., 3 Bde. (1911-31, Nachdr. 1973-76);
 F. J. E. Raby: A history of Christian-Latin poetry from the beginnings to the close of the Middle Ages (Oxford 21953, Nachdr. ebd. 1966);
 F. J. E. Raby: A history of secular Latin poetry in the Middle Ages, 2 Bde. (ebd. 21957, Nachdr. ebd. 1967);
 K. Langosch: Die dt. Lit. des lat. MA. in ihrer geschichtl. Entwicklung (1964);
 K. Langosch: Überlieferungsgesch. der m. L., in: Gesch. der Textüberlieferung der antiken u. mittelalterl. Lit., Bd. 2 (Zürich 1964);
 K. Langosch: Mittellatein u. Europa. Führung in die Hauptlit. des MA. (1990);
 J. Szöverffy: Die Annalen der lat. Hymnendichtung, 2 Bde. (1964-65);
 J. Szöverffy: Weltl. Dichtungen des lat. MA. (1970);
 G. Misch: Gesch. der Autobiographie, 8 Tle. (1-41967-79);
 A. Gransden: Historical writing in England, 2 Bde. (London 1974-82);
 F. Brunhölzl: Gesch. der lat. Lit. des MA., auf 2 Bde. ber. (1975 ff.);
 
Neues Hb. der Lit.-Wiss., hg. v. K. von See, Bd. 6-8 (1978-85);
 F.-J. Schmale: Funktion u. Formen mittelalterl. Geschichtsschreibung (1985);
 W. Berschin: Biogr. u. Epochenstil im lat. MA., 3 Bde. (1986-91);
 E. R. Curtius: Europ. Lit. u. lat. MA. (111993).
 Bibliographien:
 
Repertorium fontium historiae medii aevi, hg. v. A. Potthast u. a., 5 Bde. (Rom 1962-84);
 
Medioevo latino, auf mehrere Bde. ber. (Spoleto 1980 ff.);
 K. Langosch: Lat. MA. Einl. in Sprache u. Lit. (51988).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
mittellateinische Literatur des Mittelalters
 

Universal-Lexikon. 2012.

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